Otrovertiert: Neuer Persönlichkeitstyp – oder nur ein neues Etikett?
Kurzantwort: Nein, “Otrovertierte” sind kein wissenschaftlich entdeckter Persönlichkeitstyp. Ja, es ist ein neues Label, geprägt von einem New Yorker Psychiater — und die Medien haben es groß gemacht. Bleiben Sie dran: Hinter der Schlagzeile steckt eine spannende Mischung aus Identitätssuche, Marketing und offener Wissenschaft.
Der spannendste Befund zuerst
“Entdeckt” ist übertrieben. Der Begriff “Otrovert/Otrovertiert” stammt von Rami Kaminski, MD, einem New Yorker Psychiater, der ihn in seinem Buch “The Gift of Not Belonging” popularisiert hat (US‑Start: 17. Juni 2025) hachettebookgroup.com. Das Konzept wurde im Spätsommer 2025 international aufgegriffen, u. a. von New Scientist (13. August 2025) thejeffcenter.org.
Aber: Es gibt keine Anerkennung in klinischen Handbüchern (z. B. DSM‑5‑TR) und keine peer‑reviewte Validierung ncbi.nlm.nih.gov.
Die Story hinter dem Hype
Der Begriff “Otrovert” klingt wie ein fehlendes Puzzleteil: für Menschen, die freundlich und empathisch sind, sich aber nicht zu Gruppen zugehörig fühlen — “ewige Außenstehende”. So beschreibt es Kaminskis “Otherness Institute”, inklusive einem Selbsttest (“Otherness Scale”) othernessinstitute.com. Medien griffen das auf, vom “Bluetooth‑Phänomen” der Nicht‑Zugehörigkeit bis zur Verheißung einer neuen Identität. Deutsche Seiten stiegen Ende September 2025 ein; auch BILD pushte das Thema in dieser Zeit, passend zum “jetzt”-Framing heute.at.
Wir haben die zentralen Punkte geprüft: Buchankündigung, frühe Berichte, klinische Manuale, Messinstrumente. Ergebnis: Es ist eine frische Pop‑Psych‑Idee — spannend, aber noch ohne wissenschaftliches Fundament.
Wo die Schlagzeilen übertreiben
- “Entdeckt” suggeriert Wissenschaft, die es (noch) nicht gibt. Es handelt sich um eine vorgeschlagene Kategorie aus einem populären Buch, nicht um einen etablierten Persönlichkeitstyp hachettebookgroup.com, ncbi.nlm.nih.gov.
- Die Evidenzlage ist dünn. Viele Berichte erwähnen, dass peer‑reviewte Studien fehlen tyla.com, moneycontrol.com.
- Der Selbsttest ist nicht validiert. Kaminskis “Otherness Scale” hat — soweit auffindbar — keine unabhängige, begutachtete Validierung othernessinstitute.com.
Widersprüche: “Zwischen” oder “weder noch”?
Hier wird es interessant:
- Kaminski positioniert “Otroverts” als weder introvertiert noch extravertiert, sondern mit eigener “Ausrichtung” fern von Gruppenzugehörigkeit; die Guardian‑Berichterstattung folgt dem theguardian.com.
- Andere Medien nennen es das “Dazwischen” – also nahe an “Ambiversion” timesofindia.indiatimes.com.
Diese Deutungsschere ist ein Warnsignal: Wenn ein neuer Begriff schon in der Berichterstattung unterschiedlich definiert wird, fehlt häufig die robuste Theorie dahinter.
Einordnung: Gibt es dafür nicht schon “Ambivert”?
Psychologie und Pop‑Psych kennen längst die Ambivert–Idee: Menschen, die je nach Kontext introvertierte und extravertierte Tendenzen zeigen scientificamerican.com.
Damit wächst das Risiko, dass “Otrovert” eher eine Umetikettierung ist — es sei denn, künftige Studien zeigen klar unterscheidbare Merkmale jenseits von Intro-/Extraversion und Ambiversion.
Was wir sicher wissen
- Der Begriff ist neu und medienwirksam. Prägung durch Rami Kaminski, Buchstart Juni 2025; große Berichte im August/September hachettebookgroup.com, thejeffcenter.org.
- Kein offizieller Diagnosestatus. Nicht im DSM‑5‑TR; keine peer‑reviewten Validierungen des Konzepts oder des zugehörigen Tests ncbi.nlm.nih.gov, othernessinstitute.com.
- Deutsche Medien griffen es “jetzt” auf. Erste deutschsprachige Erklärstücke Ende September 2025; BILD pushte das Thema heute.at.
Was offen bleibt
- Ist “Otrovert” empirisch trennscharf? Unklar, solange es keine Studien gibt, die es eindeutig gegen Ambiversion und andere Konstrukte abgrenzen.
- Misst die “Otherness Scale” wirklich etwas Neues? Ohne veröffentlichte Validierung bleibt das eine Behauptung.
- Wie stabil ist die Definition? Die widersprüchliche Berichterstattung (“zwischen” vs. “weder noch”) deutet auf Definitionsarbeit hin, die noch aussteht.
Unser Prüfweg (Transparenz)
- Buch- und Verlagsangaben geprüft hachettebookgroup.com.
- Leitmedienberichte gesichtet (u. a. New Scientist‑Aggregat, Guardian) thejeffcenter.org, theguardian.com.
- Klinische Referenzsysteme gecheckt (DSM‑5‑TR) ncbi.nlm.nih.gov.
- Sekundärberichte zu Evidenzlage und Einordnung geprüft tyla.com, moneycontrol.com, scientificamerican.com, timesofindia.indiatimes.com, heute.at.
Fazit
- Wahr ist: Ein US‑Psychiater hat “Otrovert” als neues Label geprägt und damit einen Nerv getroffen.
- Übertrieben ist: Von einem “entdeckten” Persönlichkeitstyp zu sprechen. Es gibt keine wissenschaftliche Anerkennung oder Validierung.
- Klar bleibt: Wenn Sie sich in Gruppen unwohl fühlen, sind Sie nicht “falsch” — aber Sie brauchen kein neues Etikett, um echt zu sein. Forschung könnte das Konzept künftig schärfen. Bis dahin gilt: neugierig bleiben, kritisch lesen.
Wenn Sie möchten, liefere ich gern Originalzitate aus Verlag und Medien sowie einen Side‑by‑Side‑Vergleich “Otrovert vs. Ambivert/Omnivert”, um Überschneidungen und Unterschiede präzise zu zeigen.