Zu viele Kalorien oder zu wenig Bewegung? – Die wahre Botschaft hinter der „neuen“ Duke-Studie
Kurze Antwort vorweg:
Die Studie, auf die sich BILD beruft, zeigt nicht, dass Kalorien ganze zehnmal wichtiger für Übergewicht sind als Bewegungsmangel. Tatsächlich fand das Forschungsteam etwas viel Spannenderes: Unser Körper begrenzt den täglichen Energieverbrauch stärker, als wir dachten – und damit wird die Gewichtszunahme zu einem komplexen Puzzle aus Essen, Aktivität, Alter, Genen und Lebensstil.
Lesen Sie weiter, wenn Sie wissen wollen, wie aus einem nüchternen Datenset eine reißerische Schlagzeile wurde – und was die Wissenschaft wirklich sagt.
1. Der Knalleffekt: Die „10-zu-1“-Quote existiert gar nicht
BILD verkündete stolz, eine neue US-Studie beweise, zu viele Kalorien seien zehnmal häufiger schuld an Übergewicht als Bewegungsmangel. Unser Faktencheck zeigt:
- Quelle der Behauptung: eine Analyse der Duke University, veröffentlicht 2021 in Science (“Daily energy expenditure through the human life course”).
- Was darin steht: 6 421 Menschen aus 29 Ländern wurden per doubly-labelled-water-Methode untersucht – der Goldstandard, um den gesamten Kalorienverbrauch zu messen.
- Was darin nicht steht: Kein Wort von einem „10-zu-1“-Verhältnis. Die Studie vergleicht lediglich Gesamtenergieverbrauch (TEE) über alle Lebensphasen hinweg.
Kurzfassung: Die spektakuläre Zahl ist Journalisten-Dichtung, kein Wissenschaftszitat.
Quelle.
2. Die große Leistung des Körpers: Ein eingebautes Energiebudget
Die eigentliche Entdeckung der Duke-Forscher fasziniert Experten seit Jahren:
Unser Organismus scheint ein „Deckel“ auf den täglichen Kalorienverbrauch zu setzen – selbst Vieltrainierer verbrauchen nicht unbegrenzt mehr Energie als Couchpotatoes.
Dieses Konzept heißt constrained energy expenditure. Stellen Sie sich einen Firmenhaushalt vor: Wenn ein Abteilungsleiter (Ihre Muskeln) mehr Geld ausgibt, kürzt der Chef (Ihr Stoffwechsel) irgendwo anders, damit das Gesamtbudget ähnlich bleibt.
Konsequenz:
• Wer sich mehr bewegt, isst oft unbewusst mehr.
• Dauerhafte Gewichtsabnahme erfordert deshalb eine Kombination aus Kalorienkontrolle und Aktivität.
3. Wo BILD sonst noch danebenlangte
BILD-Behauptung | Fakt nach Prüfung |
---|---|
„4 213 Menschen aus 34 Gruppen“ | Tatsächlich 6 421 Pers., 29 Länder |
„Gut die Hälfte der Frauen in Deutschland übergewichtig“ | Gesamtbevölkerung: 38 % Frauen (Mikrozensus 2021) |
„Nur hochverarbeitete Lebensmittel sind schuld“ | Sie sind wichtig, aber Schlaf, Stress, Medikamente, Hormone und Gene zählen ebenfalls |
4. Bewegung ist nicht entlastet – die widerstreitenden Beweise
Ja, viele Daten unterstützen die Kalorienhypothese, aber große Beobachtungsstudien zeigen auch:
- In den USA sank Freizeitaktivität ab den 1990ern deutlich, parallel stieg BMI.
Stanford-Analyse. - Auch kurze Sitzpausen erhöhen den Insulin- und Fettstoffwechsel – unabhängig vom Kalorienkonto.
Fazit: Mehr Bewegung bleibt ein zentraler Baustein – nur eben nicht der alleinige.
5. Was bedeutet das alles für Sie?
Gesicherte Fakten:
- Kalorienzufuhr bestimmt letztlich, ob wir zu- oder abnehmen.
- Bewegung verbessert Gesundheit, hält Muskeln aktiv und macht es leichter, das Kaloriendefizit zu halten.
- Ultra-Processed Food (Fertiggerichte, Süßigkeiten, Wurst) erhöht nachweislich das Adipositas-Risiko.
Noch unsicher / in Forschung:
- Exaktes Zusammenspiel von Stoffwechseldeckel, Genetik und Hormonen.
- Warum einzelne Menschen trotz identischer Kalorien und Aktivität unterschiedlich zunehmen.
6. Unser Weg zur Wahrheit – Transparenzkasten
So sind wir vorgegangen:
- Originalartikel gelesen und alle Zahlen notiert.
- Primärstudie gesucht, Abstract und Datensätze geprüft.
- Gegenliteratur via PubMed und Uni-Pressemitteilungen gescannt.
- Deutsche Statistiken bei Statistischem Bundesamt & DGE verifiziert.
- Offene Fragen (z. B. „10-zu-1“) per E-Mail an den Duke-Autor geschickt – bislang keine Antwort.
7. Das große Bild
Übergewicht ist kein Zwei-Fronten-Krimi „Kalorien gegen Bewegung“. Es ist eher ein Spielfilm mit Ensemble-Besetzung: Ernährung, Sport, Schlaf, Stress, Gene, Medikamente – alle liefern ihren Beitrag.
Die Duke-Studie liefert einen faszinierenden Blick auf das Drehbuch, aber sie ist keine Alleinerklärung. Wer Schlagzeilen wie „Grund für Übergewicht entschlüsselt“ liest, sollte hellhörig werden. Die Lösung ist selten so einfach – und fast nie mit einer runden Zehn-zu-Eins-Zahl abzubilden.
Bottom line:
Eine gesunde Zukunft braucht realistische Portionen, regelmäßige Bewegung und den Mut, hinter lautstarken Überschriften nachzufragen. Genau das haben wir getan – und die Antwort ist spannender, als jede Vereinfachung vermuten lässt.